Liebe Kolleginnen und Kollegen,
vielleicht ist der Begriff Präsentismus nicht jedem sofort geläufig, doch das, was er beschreibt, ist alltäglicher Begleiter im Dienst. Präsentismus beschreibt das Phänomen, dass Personen zur Arbeit gehen, obwohl sie entweder psychisch oder physisch dazu eigentlich nicht in der Lage sind – kurzum: Sie sind krank!
Dass aus verschiedensten Motiven doch wieder und wieder die Dienststelle angelaufen wird, hat Auswirkungen auf den Einzelnen sowie auf die gesamte Organisation. Mit dem sogenannten Präsentismusverhalten geht immer auch Leistungsverlust einher. Der- oder diejenige, der/ die krank zur Arbeit geht, kann sein/ihr eigentliches Leistungsvermögen nicht oder nur unzureichend abrufen. Darüber hinaus betreibt der- bzw. diejenige hierdurch Raubbau an der eignen körperlichen wie psychischen Gesundheit.
Zu Präsentismus generell gibt es mittlerweile ausgiebige Forschung. Die Forschung im Bereich Präsentismus ist für den besonderen Bereich Polizei bisher jedoch nur unzureichend ausgeprägt. Aus diesem Grund, und um festzustellen, ob und wenn ja, welche gravierenden und prägenden Unterschiede es hinsichtlich Präsentismus zwischen Polizei und anderen Berufsfeldern gibt, haben sich die Forschenden Marlen Baumann (Euro-FH Hamburg), Thea Zander-Schellenberg (Uni Basel) und Janosch A. Priebe (TU München) in einer Studie diesem Thema gewidmet [Baumann/Priebe/Zander-Schellenberg (2021): Always on duty?! – Untersuchung des Präsentismusverhaltens bei deutschen Polizeibeamten, Berlin, Deutschland: Springer].
Im Rahmen einer Stichprobe mit Befragung von insgesamt 135 Personen (64 Polizeibeamte zu 71 Nicht-Polizeibeamte) wurde primär untersucht, inwieweit Präsentismus gesellschaftlich und berufsübergreifend ausgeprägt ist. Für alle diese Gruppen konnte festgestellt werden, dass hohe Arbeitsbelastung, Schichtdienst und Überstunden Auswirkungen hierauf haben.
Für den polizeilichen Bezug ist jedoch der Aspekt entscheidend, der sich im Rahmen der Forschungsergebnisse unterscheidet: Warum neigen Polizeibeamte im Vergleich zu anderen Berufen zu Präsentismus? Was führt also dazu, dass Kolleginnen und Kollegen auch krank Dienst verrichten, und welche Auswirkungen hat das?
In ihrem Fazit stellen die Forschenden fest, dass hinsichtlich der Motive in weiten Teilen eine Kongruenz besteht. Interessant ist jedoch, dass Polizeibeamtinnen und -beamte vor allem deshalb zum Dienst kommen, weil sie ihre Kollegenschaft „nicht im Stich lassen wollen“. Es zeigt sich also ein ausgeprägtes positives Zusammengehörigkeitsgefühl. Ursächlich hierfür könne vermutlich der Fakt sein, dass die Zufriedenheit mit den unmittelbaren Kolleginnen und Kollegen deutlich höher ausgeprägt sei als auf dem freien Markt. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer hingegen geben an, dass sie primär aufgrund eines hohen „Workload“ sowie anstehender Fristen dazu neigten, trotz Krankheit zu arbeiten.
Auf kurze Sicht wird vereinzelter Präsentismus keine negativen Folgen haben. Auf lange Sicht schadet er unmittelbar der Gesundheit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Träger der Last bleibt jedoch immer der einzelne Mitarbeiter, nie die Behörde als Arbeitgeber. Dass sich einzelne Mitarbeiter dermaßen aufreiben und für Kollegen in die Bresche springen, verlangt einem Respekt ab, ist jedoch falsch verstandener Ehrgeiz und eigentlich schon im Keim durch Disziplinarvorgesetzte zu ersticken. Diese wiederrum stecken in dem Dilemma, dass sie das Personal benötigen und aus diesen Motiven solches Verhalten dulden.
Wir befinden uns also ein Stück weit in einem Teufelskreis, der nur durch Fürsorge und Wahrnehmung der eigenen Verantwortung durch den Dienstherren bzw. durch politische Verantwortungsträger durchbrochen werden kann. Dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nicht bloße Zahlen in Personalberechnungen sein dürfen, scheint eigentlich klar. Der Umgang mit Überstunden, eine häufig fehlende Work-Life-Balance und die politische Unverantwortlichkeit hinsichtlich immer weiter anwachsender Aufgabenbereiche bei stagnierendem oder in Teilbereichen gar reduziertem Personalkörper drängen unterschwellig die einzelnen Mitarbeiter in ein überbordendes Engagement, welches sich damit individuell gesundheitlich und finanziell im Rahmen der Gesundheitsaufwendungen erst im späteren Dienstalter auswirkt.
Ein einfaches Beispiel: Wenn auf einer kleinen Dienststelle eine größere Zahl an Personen ausfällt, führt das unweigerlich zu mehr Arbeit der Anderen. Dies führt wiederum überproportional häufig zu mehr Stunden, die geleistet werden. Kommen dann noch außerplanmäßige Ereignisse (z. B. eine MOKO, Fußballeinsätze, Veranstaltungen etc.) hinzu und werden auf weniger Schultern verteilt, steigt die Belastung abermals. Die Belastungsgrenze ist häufig auch bei den Gesunden erreicht, sodass diese eigentlich ebenfalls ausfallen müssten, dies aber aus den nunmehr belegten Gründen nicht tun. Die Folge ist flächendeckende Überlastung. Was ist die Lösung?
Eine omnipotente Lösung wird es nicht geben, das scheint klar. Der naheliegendste Ansatz wäre, die Personalstruktur nicht auf Kante zu nähen. Ein einfacher Ansatz und doch so schwer.
Wir sehen überall in unserer Umwelt, dass es nicht sein kann, dass Dinge dauerhaft und nachhaltig überstrapaziert werden, sei es das Klima, Gewinnmargen, Bebauungsflächen, unser Rentensystem oder fehlinterpretierte Toleranz gegenüber alles und jedem. Gewinner gibt es meist keine, Verlierer viele.
Resümierend bedeutet das in diesem Kontext für die Polizei: Kein Raubbau an den Mitarbeitenden! Menschen sind nicht bloße Zahlen in Personalberechnungen! Fürsorgepflicht kann keine hohle Phrase sein! Nur ein mehr an Personal, eine ausgewogene Arbeitsbelastung und -verteilung sowie eine realistische Erwartungshaltung sorgen dafür, dass sich der einzelne Sachbearbeiter auf der Mikro-Ebene ESD oder KED nicht wortwörtlich „den Buckel krumm macht!“. Erst wenn die durch Krankheiten entstandenen Kosten für das Land so hoch sind, dass man nicht mehr drüber hinwegsehen kann, scheint eine Einsicht zu erreichen – aber klar ist auch: Wenn man diese Problem präventiv angeht, werden weniger Menschen krank und es gibt weniger Folgekosten. Vorsorge bleibt besser als Nachsorge!
Bleiben Sie gesund / bleibt gesund!