30. Juni 2021

Verfassungsschutzbericht 2020: Diskrepanz zwischen politischen Zielen und Rahmenbedingungen?

Im Rahmen der Vorstellung des Niedersächsischen Verfassungsschutzberichtes 2020 nahm unser Innenminister Boris Pistorius folgendermaßen Stellung: „Nach wie vor stellt der Rechtsextremismus für die Sicherheitsbehörden eine der größten Herausforderungen dar. Die Entgrenzung, also die Vermischung von rechtsextremistischen und rechtspopulistischen Positionen, zieht neue und mehr Anhänger an. Die Gewaltbereitschaft in der linksextremistischen Szene ist nach wie vor hoch. Die Anzahl der Salafisten in Niedersachsen stagniert mit 900 Personen auf hohem Niveau. Die Grenzen zwischen dem Salafismus und anderen islamistischen Organisationen verschwimmen zunehmend.“

Als Fachverband Innenministerium können wir uns der Stellungnahme unseres Innenministers voll und ganz anschließen.

Betrachten wir diese politische Analyse doch nun einmal etwas genauer:

Durch die Aufnahme der Beobachtung der „Jungen Alternative“ und des „Flügels“, der internen Strömung der Partei Alternative für Deutschland (AfD), ist das rechtsextremistische Personenpotential von 1.160 auf 1.750 gestiegen – eine Erhöhung um mehr als 50 Prozent!

Einen weiteren Schwerpunkt bilden aktuell die Protestformen rund um die Corona-Leugner und Querdenker-Szene. Diese dienen den Rechtsextremisten aktuell als Anschlussstelle in das nicht extremistische / bürgerliche Spektrum. Es kommt hier zu einer Vermischung rechtsextremistischer Ideologien und populistischer Protestformen, weshalb der Verfassungsschutz diese Szene unter der Bezeichnung „Demokratiefeindliche und/oder sicherheitsgefährdende Delegitimierung des Staates“ zum Verdachtsobjekt bestimmt hat.

Auch wenn durch die Corona-Pandemie und die damit verbundenen Kontaktbeschränkungen die Aktivitäten des Linksextremismus in vielen Bereichen (Demonstrationen, Treffen in autonomen Zentren, etc.) zum Erliegen kamen, verzeichnen wir auch hier einen leichten Anstieg des Personenpotentials von 780 auf 790 Personen.

Die großen Herausforderungen hier sind das Erkennen von linksextremistischen Strukturen und Einflussnahmen in der Klimabewegung und die Antigentrifizierung. Die linksextremistische Szene versucht, seit Gründung der „Fridays-for-Future“-Bewegung diese für ihre politischen Ziele zu instrumentalisieren. In Folge dessen hat sich innerhalb dieser Bewegung eine Plattform namens „Change for Future“ gegründet, welche die Auffassung vertreten, dass ein effektiver Klimaschutz nur möglich ist, wenn der Kapitalismus mit all seinen negativen Folgen für die Umwelt und der ihn aus ihrer Sicht schützende demokratische Rechtsstaat überwunden ist.

Ein weiterer Aspekt des Linksextremismus ist der Kampf gegen die Gentrifizierung. So ist in Niedersachsen ein leerstehendes Gebäude einer Wohnungsbaugesellschaft vorübergehend besetzt worden. Hier zeigt sich dann auch das potentielle Gewaltpotential der linksextremistischen Szene. Gerade in der jüngsten Vergangenheit gab es in Berlin rund um die Rigaer Straße 94 massive Ausschreitungen und gewalttätige Auseinandersetzungen mit der Polizei. Dies zeigt auf, dass sich das Gewaltpotential der Linksextremistischen Szene auf einem konstant hohen Niveau bewegt.

Im Bereich des Islamismus ist derzeit eine Stagnierung des Personenpotentials von aktuell 900 Anhängern zu verzeichnen. Dies scheint darin begründet, dass strahlkräftige Identifikationsfiguren wie Abu-Walaa zu einer langjährigen Haftstrafe verurteilt wurden.

Da im Bereich des Islamismus die Abgrenzungen zwischen vielen Strömungen wie Muslimbruderschaft und Salafismus zunehmend verschwimmen, versuchen Akteure aus Niedersachsen durch die Föderale Islamische Union (FIU) diese zu vereinen und als Vertretung aller sunnitischer Vereine agieren zu können. Das Bilden dieser Organisation zeigt auch auf, dass sich die Szene einem Wandel nicht verschließt, um so weitere Personenpotentiale zu akquirieren.

Der Extremismus mit Auslandsbezug weist ein gleichbleibend hohes Mitgliederpotential auf. So sind im Bereich der „Arbeiterpartei Kurdistans“ (PKK) 1.600 und im Bereich der türkischen Nationalisten (Ülkücü-Bewegung / Graue Wölfe) 700 Anhänger zu verzeichnen. Durch die aktuelle politische Lage in der Türkei und den kurdischen Gebieten im Irak und Syrien ergibt sich auch in Deutschland ein hohes Emotionalisierungspotential, was sich bei Aufeinandertreffen dieser Gruppierungen in gewalttätigen Auseinandersetzungen entladen kann.

Phänomenübergreifend ist eine wachsende Einflussnahme durch die digitalen Medien erkennbar. Dies hat zur Folge, dass auch hier die Anforderungen steigen.

In allen Fachbereichen stellen wir also fest, dass die Mitgliederzahlen gleichbleibend hoch sind oder sogar steigen, was zu einer massiven Mehrbelastung der Mitarbeiter führt. Hinzu kommen noch weitere Anforderungen durch den stetigen Wandel der Szenen, da diese sich immer weiter auf die sozialen Medien und das Internet ausdehnen. Hier versuchen sie weitere Mitglieder zu werben und ihre Ideologie zu verbreiten. Aus diesem Grund fragen wir uns, wie die angedachten Personalkürzungen mit den gestiegenen Herausforderungen vereinbar sind?

Aus unserer Sicht ist es politisch unverantwortlich, auf Kosten der inneren Sicherheit die Corona-Krise finanzieren zu wollen. Es wird somit billigend in Kauf genommen, dass auf die gestiegenen Anforderungen nicht adäquat reagiert werden kann und die Arbeitsbelastung bei den Kolleginnen und Kollegen weiter ansteigt.

Wir sollten nicht vergessen:
Innere Sicherheit ist kostbar – sie kostet aber auch!

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